Bernd Künzig: Einführungsrede zur Eröffnung der Ausstellung „Jochen Kitzbihler, Steinskulptur – Steinlandschaft“
Galerie im Artforum, Offenburg 2007
Ich möchte mit einer Frage eröffnen: Was ist das Material einer Skulptur? Darauf scheint es momentan keine klare Antwort zu geben, denn Skulptur und skulpturales Denken sind gerade im Kommen, weil sie sich nicht mehr an Materialvorschriften halten. Es scheint alles möglich zu sein: Vom Sand, über schmelzendes Wachs und schimmelndes Brot, Altkleiderballen bis zu synthetischen Stoffen. Dafür geht es mehr um konkrete Bilder, die mit diesen unterschiedlichen Materialien machbar werden. Skulptur ist heute erzählerisch und inhaltlich – damit so etwas wie antitraditionalistisch und doch auch ein Stück konservativ. Demgegenüber scheint eine an der klassischen Abstraktion orientierte Skulptur einen schweren Stand zu haben, weil sie im Gegensatz zu so viel Offenheit eben immer noch am Materialbegriff orientiert ist. So scheint diese Position eine Tradition zu verkörpern. Aber auch die Antitradition ist ohne ihr Gegenteil nicht möglich, weil sie sich ja gerade daran reibt und abarbeitet.
Wer die Steinskulpturen Jochen Kitzbihlers auch nur oberflächlich wahrnimmt, wird rasch begreifen, dass sein skulpturales Denken aus der Tradition der Materialdiskussion stammt. Es ist ein Weiterschreiben klassischer Positionierungen, ohne traditionalistisch zu sein. Denn was wäre ein traditioneller Bildhauer anders als ein Nachfahre Michelangelos. Von diesem wird die schöne Geschichte erzählt, er habe im Steinbruch bereits das Material danach gewählt, was in ihm vorhanden sei: eine jener titanischen kolossalen Figuren, mit denen Michelangelo in die Geschichte vom Bild des Individuums eingegangen ist. Was einmal im Stein erkannt wurde, musste nur noch freigelegt, herausgeschlagen werden. In diesem Kontext ist Jochen Kitzbihler ein Antitraditionalist, denn um das Herausschlagen geht es ihm keinesfalls. Er ist vielmehr ein Künstler des Stehenlassens, der nur mit äußerst behutsamen Gesten an ein Material herangeht, dem so scheinbar gar nicht mit Zurückhaltung entgegnet werden kann. Der titanisch-genialische Kampf mit dem Material führt zu Kolossalem, was Jochen Kitzbihlers Sache ebenfalls nicht ist. Im Respekt vor dem was gegeben ist, lässt sich das Gegenteil der so signifikant europäischen Unterwerfung und Beherrschung des Materials erkennen. Auguste Rodin träumte die Steinskulptur als Ruine Michelangelos, in dem er die Figur wieder zum Steinbruch zurückführte. Jochen Kitzbihler hingegen ist nie aus dem Steinbruch herausgekommen, weil er ihn schon selbst als Skulptur denkt und begreift. Das Herauslösen des Steins aus dem Bruch ist für ihn bereits skulpturale Geste im ursprünglichen Sinne, die nichts anderes meint, als ein substraktives Verfahren des Wegnehmens. Je weiter dieser Vorgang des Wegnehmens getrieben wird, desto mehr Leere wird entstehen. Nicht die Form ist also die Zielsetzung des skulpturalen Verfahrens, sondern die Leere. Ein derartiges Denken, bedeutet antitraditionalistisch den westlichen Werkbegriff der artifiziellen Schöpfung mit dem des fernen Ostens zu vertauschen, in dem nicht die Fülle Zentrum der Auseinandersetzung ist, sondern die Leere. Form ist dabei nur Mittel diese Leere zu fassen, ihr ein Gefäß zu verleihen.
Eine derartige Denkhaltung wird schließlich bei der Betrachtung der Steinskulptur „Klatschen einer Hand“ deutlich. In der massiven Präsenz des schwarzen Steins wird die Strategie des Stehenlassens offenbar: Der Stein ist ein Fundstück, wie er aus dem Bruch geschnitten wurde. Dieser scheinbar mechanisch, industrielle Schnitt ist skulpturale Geste des Wegnehmens, auf den an der Randbegrenzung die beiden stehengelassenen halben Borhrlöcher verweisen. Die Oberfläche des Steins ist akkurat glatt geschliffen. Den größten Teil dieser geschliffenen Oberfläche nimmt eine Vertiefung ein, die ein Becken für Wasser bildet. Es ist ein Leerraum, der mit einem gegenteiligen Charakter des Steins gefüllt ist: das geschmeidige Wasser trifft auf die steinerne Härte, und gibt doch einen Hinweis auf jenen geologischen Prozess, mit dem das Wasser dem Stein jene Form gibt, auf die Jochen Kitzbihler mit seinem geformten Leerraum der Wasseroberfläche verweist: Steter Tropfen höhlt den Stein.
Die mit Wasser gefüllte Oberfläche ist gegenüber dem präsenten Körper des Steins ein sanfter Hauch, der sich dennoch von abgründiger Tiefe erweist. Die Wasseroberfläche wirkt nicht nur als Spiegel des umgebenden Raumes, in dem sich der Steinkörper befindet, er nimmt diesen vielmehr auf, als ob er in das Innere des Steins gedrungen wäre und verleiht diesem eine Tiefe, die nicht vorhanden ist, sondern als Erscheinung eines anderen Raumes eingeschrieben ist. Es sind minimalistische Gesten, die sich von großer Wirkung erweisen: das Herausschneiden des Steins aus dem Bruch, das Schleifen der Oberfläche und schließlich das auffüllende Gießen von Wasser, die hier eine Skulptur entstehen lassen, deren räumliche Präsenz und Ausstrahlung weit über diesen minimalistischen Gestus hinausweisen. Bei aller Einfachheit der technischen Erklärbarkeit wahrt die Skulptur ein Geheimnis, in dem der Blick in die spiegelnde Wasseroberfläche ein abgründiger, nicht ganz ergründbarer bleibt: der wahre Kern bleibt im Inneren verschlossen, das Wasser hingegen erzeugt nur das Vortäuschen eines Einblicks in diesen inneren Raum, in dem er lediglich das gespiegelte Äußere wiedergibt. Der Titel „Klatschen einer Hand“ ist demgegenüber nur scheinbares Weiterschreiben an den skulpturalen Geheimnissen. Wie alle sprachlichen Umschreibungen bildkünstlerischer Werke verharrt er im sinnbildlichen Gestus, der diesen verbalen Äußerungen zu eigen ist. Wie das „Klatschen einer Hand“ im leeren Raum eine minimalistische Geste von großer akustischer Effizienz sein kann, so bildet auch der Minimalismus dieser Steinskuptur eine große Wirkung heraus, bei deren Betrachtungsmeditation sich grundlegende Seinsfragen nach Raum und Körper ergeben.
Der „Bildstein“ ist demgegenüber nur scheinbar stringenter geformt. Wenngleich die Schnitte hier konzentrierter, der Rand hier wesentlich gestalteter ist, um einen Art Rahmen zu erreichen, so bleibt der Kern des Steins erhalten. Das Schneiden und Schleifen der Fläche dient dazu, eine Bildschicht zu erzeugen, deren Oberfläche natürliche Zeichnung der geologischen Formung bleibt. Wenn wir diese Oberfläche betrachten und zu lesen versuchen, so erhalten wir das, was wir bereits haben. Bilder entstehen in erster Linie im Kopf und was wir in ihnen erkennen, lesen wir in sie hinein. Wer auf der geschliffenen Oberfläche des „Bildsteins“ einen Blick von oben auf eine Landschaft mit Talverläufen und Bergeshöhen sieht, der mag einerseits im Mikrokosmos dieser Steinoberfläche den Makrokosmos seiner Herkunft aus dem Steingebirge erkennen, als handle es sich um eine Bestätigung von Goethes Idee der Metamorphose, wonach im Kleinen das ganze Große enthalten ist, Blatt bereits Baum, Stein bereits Gebirge ist. Andererseits bleibt dieses Bild ebenfalls ein fiktives Inneres, wie es im Fall von „Klatschen einer Hand“ der durch die Wasseroberfläche vorgetäusche Innenraum ist, in dem er das Äußere ins scheinbare Innere des Steins einschreibt. Fasziniert von der Bildhaftigkeit der gefundenen Steinoberfläche hat sich Jochen Kitzbihlers Recherche nach dem komplexen Bildverhältnis von Mikro- und Makrokosmos in jüngster Zeit dem Mittel der Fotografie zugewandt. Die skulpturale Vorgehensweise bleibt dabei erhalten. Wenn wir Jochen Kitzbihler mehr als einen Künstler des Findens als des Erfindens bezeichnen, der auch bei der Steinskulptur das Gefundene mehr bestehen lässt, als es sich formal zu unterwerfen, so dient ihm der fotografischen Apparat ebenfalls mehr als Medium, um Bilder zu finden, als zu erfinden. Im Blick auf die Gebirgsformation entsteht ein Bild von Schichtungen und Faltungen, die auch im Blick auf das Detail, auf die Bodenoberfläche oder den einzelnen Stein erkennbar werden. Wie in den Steinskulpturen sind in diesen Steinlandschaften Mikrokosmos und Makrokosmos ineinander verschränkt. Ebenso sind die Skulpturen nicht nur gewesener Teil von Landschaft, sondern enthalten diese in ihrem Kern, wie wohl die fotografischen Steinlandschaften bereits Skizzen und bildliche Entwürfe der Skulpturen sein können.
Was im Ausstellungsraum und –kontext als künstlich erscheint, ist nur scheinbar natürlich im vorgeblich dokumentarischen Gestus der fotografischen Bildfindung. Ebenso angemessen ist die Umkehrung, wonach das fotografische Bild viel eher künstliches Artefakt ist, weil es das Natürliche nur wiedergibt, während die Skulptur mit ihren künstliche Eingriffen der Formung viel mehr wahrhafte Natur ist, weil sie diese bestehen lässt wie sie zu einem Teil vorgefunden wurde. Diese komplexe Verschränkung von Natürlich und Künstlich mittels der Bilderscheinung – sei diese dreidimensionaler, plastischer Natur oder zweidimensionaler, fotografischer Abzug, diese Verschränkung wird in der für diese Ausstellung entstandenen Bildserie konzeptuell zugespitzt. Der Serie liegt ein Gesamtbild zugrunde, das mittels einer Computersimulation eine geränderte Darstellung von Messdaten eines österreichischen Gebirgstales in einer Bilderfindung wiedergibt, die modellhaft Vegetation und Zivilisation ausgeschlossen hat. Was übrig bleibt, ist der Blick aus der Vogelperspektive auf eine rein geologische Landschaft, die Traum und Albtraum des Steinbildhauers ist: ein unwirtliches, künstliches Paradies, in dem der Stein zu seinem eigentlichen Wesen vorgedrungen ist. Von hier ist es nur ein kurzer Schritt zur reinen Steinoberfläche von Mond und Mars.
Dieses geränderte Gesamtbild wurde von Jochen Kitzbihler seinen elementaren skulpturalen Gesten des Schneidens und Schleifens unterworfen. Details sind zu Einzelbildern herausgelöst, deren Oberflächen durch Einschnitte und Abschleifverfahren gestaltet wurden. Wie in den Skulpturen zeigt sich auch hier die Differenz des Wegnehmens und Stehenlassens. Vergleichbar dem skulpturalen Fundstück hat Jochen Kitzbihler die Messdaten und deren geränderte Umsetzung als solches behandelt, das durch die skulpturale Behandlung des Schneidens und Schleifens zu einem Artefakt wird, das dennoch seiner ursprünglichen Beziehung zum Naturraum nicht gänzlich beraubt wird. Skulptur wird in diesem Fall nicht durch die Materialverhaftung bestimmt, nicht der Stein ist per se Skulptur und die Fotografie Bild. Umgekehrt kann auch der Stein Bild sein und die Fotografie Skulptur, weil ihnen beiden die Strategie des Wegnehmens und Stehenlassens, des Schneidens und Schleifens zugrunde liegen. Und ohne großes Erstaunen erweist sich Jochen Kitzbihlers skulpturales Denken nicht weniger antitraditionalistisch als dieses einer gänzlich anders gelagerten Skulptur, der das Material gleichgültig ist. Für Jochen Kitzbihlers skulpturales Denken wird das Material ebenfalls gleich-gültig. Zur geformten Skulptur wird es erst durch das minutiöse Ausbalancieren des Wegnehmens und Stehenlassens. Die Differenz besteht demgegenüber zwischen Finden und Erfinden. Und Jochen Kitzbihler gehört ohne Zweifel zu den stillen, aber großen Findern. Dies ist sein bedeutendes künstlerisches Surplus innerhalb einer erfindungsreichen Wegwerfgesellschaft. Darin ist er schlußendlich doch Traditionalist.