Heinz Höfchen: Die Stelen - 2023

Die Stelen - Heinz Höfchen, 2023
Eine wichtige Werkgruppe im Schaffen des Bildhauers, Graphikers und Photographen Jochen Kitzbihler sind seine Stelen, die einen konzentrierten, aufschlussreichen Einblick in das gewachsene Œuvre geben. Das plastische Werk Kitzbihlers setzt ein zu Beginn der 1990er Jahre unter dem Einfluss seines Lehrers, des japanischen Bildhauers Hiromi Akiyama, der seinen Umgang mit Masse, Fläche und Raum, mit Leerräumen und Polaritäten grundlegend inspiriert. Asiatisches Gedankengut ist zudem wesentlich bei der kontemplativen Grundhaltung der Skulpturen Kitzbihlers. Formvorstellungen minimalistischer Kunst kombiniert er im Einklang mit dem Material und dessen natürlichen Vorgaben zu einer organisch geprägten Konkretion. Ein energetischer Zusammenhang mit Natürlichem ist ihm Ausgangspunkt des Schaffens.
In der Region am Oberrhein findet man eine ganze Reihe seiner großformatigen Arbeiten im öffentlichen Raum. Ein besonders eindrucksvolles grandioses Werkbeispiel ist die monumentale Stele transversal aus unterschiedlichen Graniten, nämlich Vogesengranit und Schwarzwaldgranit: Die wie eine Wendeltreppe alternierend angeordneten Steinquader aus beiden Ländern betonen am Aufgang zur Europabrücke in Kehl das gemeinsame Wachsen, ja das zusammen Wandeln.

Stelen sind das archaische Momentum des Plastischen, grundsätzlich anthropomorph, da sie in ihrer Urform zum ersten Mal plastisch den homo erectus spiegeln. Damit korrespondieren Holzpfähle, auf denen man die Köpfe der besiegten Feinde präsentierte, oder etwa Totempfähle als Ausdruck allen Existenziellen. Gemeinsam ist den vertikalen Formen der Stolz des Aufrechten, der seine Entwicklung vom Liegen und Sitzen zum Stehen zeigt und dieses Bewusstsein für immer tragen und in seiner Kunst zum Ausdruck bringen wird. Die Grundform der stélē - das griechische Wort für Säule oder Pfeiler - folgt dem frühgeschichtlichen Menhir, ihre Entwicklung vollzieht sich über Artefakte in roher menschlicher Gestalt zum schematisierten Abbild des menschlichen Körpers, um schließlich zur abstrahierten vertikalen Form zu werden. Gerade hier wird deutlich, wie konkrete Gestaltung organisch angelegt ist. Dem Existentiellen verbunden, transportiert die Stele auch die dem Organischen immanente Idee des Wachsens und drückt im Bezug das männliche Prinzip der Fruchtbarkeit aus.
Kitzbihlers Stelen sind herausragende Zeugnisse konkreter Plastik im Sinne einer Reduzierung des Handschriftlichen in der Skulptur, bestechen andererseits durch eine raffinierte Vereinnahmung der gewachsenen steinernen Beschaffenheit, oft mit sublimer Oberfläche, sie suchen dabei die Sprache im Material wie im Vorgefundenen. Feinkörnige Gabbro Gesteine, quarzaderdurchzogener Granodiorit, raue Abrisskanten, sogar ein übernommener Sprühpunkt zur Markierung sind lebensnaher Kontrapunkt zu geometrisch-konkretem Gestalten. Kitzbihler ordnet in seinem plastischen Werk dreidimensionale Strukturen und gibt auf einer weiteren Bezugsebene diesen Ordnungen mit ästhetischen Mitteln ein sinnliches Leben.
Darüber hinaus sind die Stelen im Werkzusammenhang durch seine Beschäftigung mit dem Strukturbegriff Ausgangspunkt für ein dynamisches Strukturverständnis: In der Folge entwickelt Kitzbihler mit der zentralen Fragestellung Ist Struktur Transformation? seine künstlerische Arbeit durch die konsequente Integration wissenschaftlicher Aspekte zu einem transdisziplinären Werk. Er öffnet damit das Gesamtwerk hin zu seinen In Situ-Rauminstallationen. Diese gefügten Anordnungen, oft aus gesammelten, erodierenden Lehm-Sandbrocken und Rohgesteinen werden durch Bildkonzeptionen in landschaftliche, geologische sowie kosmische Dimensionen erweitert: Sie reflektieren und erklären Transformationsprozesse, die Raum- und Zeitbegriffe in der Wahrnehmung hinterfragen und überwinden.
Bild: Steinmann im Cristallina-Gebiet, San Gotthardo